Ganzjahresreifen im Härtetest: Sind sie im Neuschnee wirklich lebensgefährlich?

Ganzjahresreifen im Härtetest: Sind sie im Neuschnee wirklich lebensgefährlich?

Die Frage spaltet Stammtische, Foren und Familienchats. Zwischen Pragmatismus und Panik liegt ein weißer, rutschiger Zwischenraum.

Der Morgen riecht nach Stille, die Straße ist weich. Ich kratze das Fenster frei, starte den Motor, und die ersten Flocken knistern unter den Reifen wie Cornflakes. Auf der Seitenstraße versucht ein Lieferwagen anzufahren, die Räder zucken, das Heck wippt. Ein SUV rollt vorbei, gelassen wie ein Schlittenhundrudel. Ich drehe vorsichtig auf die Hauptstraße, der Bordcomputer blinkt, das ABS rattert leise, als wollte es sagen: Langsam, mein Freund. Neben mir macht der Nachbar den Daumen hoch und ruft: „Ganzjahresreifen? Heute mutig!“ Ich lache, nicht ganz entspannt. Denn genau hier entscheidet sich die große Frage: Reicht „all season“ für dieses „all weiß“?

Neuschnee ist kein Instagram-Filter, sondern Reibungsphysik

Neuschnee ist nicht gleich Schnee. Die Kristalle sind kantig, locker, sie verkanten und schmieren, sobald sie unter Last zusammengedrückt werden. Das Profil eines Reifens muss die Flocken greifen, komprimieren und wieder auswerfen. Neuschnee ist der Stresstest für jeden Kompromiss, den Allwetterreifen eingehen. Wer an einem Hang steht, merkt das zuerst: Die Traktionskontrolle arbeitet, das Gas wird sachte, die Lenkung fühlt sich wattig an. *Es fühlt sich an, als würde das Auto auf Watte schwimmen.*

Tests von ADAC, AutoBild und dem TCS zeigen seit Jahren ein Muster: Gute Ganzjahresreifen mit 3PMSF-Symbol bremsen auf festgefahrenem Schnee erstaunlich ordentlich, im fluffigen Neuschnee schieben sie aber früher. Von 50 km/h zum Stillstand liegen sie je nach Modell rund 10 bis 20 Prozent hinter vollwertigen Winterreifen. Bei steilen Anfahrten oder in tiefer Schneedecke kommen schwächere Allwetter-Modelle schneller an ihre Grenzen. Und doch: Der Sprung zu Sommerreifen ist gigantisch – die stehen im Schnee oft doppelt so lang. Die Bandbreite ist gesundheitsrelevant.

Warum ist das so? Ganzjahresreifen mischen Sommer- und Wintereigenschaften. Die Gummimischung bleibt bei Kälte einigermaßen weich, ohne im Warmen zu schmieren. Lamellen sorgen für Kanten, aber nicht in der Dichte und Tiefe wie bei echten Winterreifen. Im Neuschnee „verklebt“ das Profil schneller – die Kanäle füllen sich, der Selbstreinigungseffekt ist schwächer. Dazu kommen Temperaturen um den Gefrierpunkt, wo Matsch entsteht, der wie Seife wirkt. Winterreifen haben hier meist mehr Negativprofil und aggressivere Blockkanten. Allwetterreifen spielen defensiv, und das spürt man im Lenkrad.

So kommt man mit Allwetterreifen durch den weißen Morgen

Erste Regel: Tempo runter, Abstand hoch, Eingaben weich. Starte an Steigungen im zweiten Gang, reduziere das Motordrehmoment, nimm zur Not den Eco-Modus. Nutze die schwer genutzten Spuren, nicht den unberührten Puder. Vor dem Losfahren Schnee aus den Radhäusern klopfen – das verhindert „Eisklumpen-Lenkung“. Der Luftdruck sollte im Sollbereich liegen; zu wenig Druck vergrößert zwar die Aufstandsfläche, verschlechtert aber die Karkassenarbeit im Schnee. Und: Vorausschauend planen. Flache Route statt steiler Abkürzung. Einmal Schwung ist besser als dreimal Anfahren.

Zweite Regel: Profil ist dein bester Freund. Unter 4 Millimetern bricht die Performance im Winter spürbar ein, legal sind 1,6 mm, praktikabel ist das nicht. Reinige das Profilraster, wenn Matsch klebt. Fahre möglichst im linearen Gas, vermeide hektische Korrekturen, hinterlasse lange, ruhige Spuren. Wir kennen alle diesen Moment, in dem das Auto leicht nach außen schiebt, die Zeit langsam wird und man denkt: Bitte, bleib einfach gerade. Genau dafür lohnt Achtsamkeit. Seien wir ehrlich: Niemand macht das jeden Tag. Doch an Schneetagen zahlt sich jeder sanfte Handgriff aus.

Die dritte Regel ist ein Mix aus Technik und Demut. 3PMSF ist Pflicht – ohne Schneeflockensymbol auf dem Bergpiktogramm bist du in Deutschland bei „Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch, Eis- oder Reifglätte“ nicht regelkonform.

„Reifen sind kein Zaubertrick. Sie verlängern deinen Handlungsspielraum – erlösen dich aber nie von Physik,“ sagte mir ein Prüfer einmal in der verschneiten Eifel.

  • Tagesform checken: Straße, Auto, du selbst.
  • Kein Heldentum am Hang: Notfalls umdrehen.
  • Schneeketten dabeihaben, wo Beschilderung es fordert.

Lebensgefährlich oder kalkulierbares Risiko?

Lebensgefährlich wird Neuschnee, wenn Anspruch und Realität auseinanderlaufen. Gute Ganzjahresreifen retten den Alltag in flachen Regionen, sie entschärfen Pendelwege und spontane Wetterumschwünge. Wer im Mittelgebirge wohnt, nachts liefert oder in die Alpen startet, fährt mit Winterreifen souveräner – und hat Reserven, wenn aus Puderpackung nasser Schneematsch wird. Die Frage ist weniger ideologisch als situativ: Strecke, Auto, Fahrer, Reifenmodell. Wer sein Tempo anpasst, Rampen meidet und Modelle aus aktuellen Tests wählt, reduziert Risiken deutlich. Tempo schlägt Technik – und Haltung schlägt Hasard. Teilen wir die Straße, nicht nur die Meinung.

Kernpunkt Detail Interesse für den Leser
Allwetter im Neuschnee 10–20 % längere Bremswege als Winterreifen, große Modellunterschiede Realistische Erwartung statt böser Überraschung
Fahrtechnik Sanfte Inputs, zweiter Gang, flache Routen, Profil ≥ 4 mm Konkrete Handgriffe für den nächsten Schneetag
Recht & Sicherheit 3PMSF nötig bei winterlichen Bedingungen; Ketten auf beschilderten Strecken Bußgeld vermeiden, Sicherheit gewinnen

FAQ :

  • Sind Ganzjahresreifen im Neuschnee wirklich gefährlich?Gefährlich wird es, wenn man sie wie Winterreifen behandelt. In flachem Gelände funktionieren gute 3PMSF-Modelle solide, in tiefem Neuschnee oder am Hang geraten sie früher an Grenzen.
  • Woran erkenne ich taugliche Allwetterreifen für den Winter?Am Schneeflockensymbol (3PMSF) und an aktuellen Testergebnissen von ADAC, TCS oder Fachmagazinen. Finger weg von Billigreifen ohne belastbare Tests.
  • Welche Profiltiefe sollte ich im Winter mindestens haben?Empfohlen sind 4 mm oder mehr. Gesetzlich sind 1,6 mm erlaubt, doch im Schnee baut die Performance lange vorher ab.
  • Darf ich mit Allwetterreifen in die Berge fahren?Ja, wenn 3PMSF vorhanden ist. Bei Kettenpflicht brauchst du zusätzlich Schneeketten. Plane steile Passagen defensiv oder wähle alternative Routen.
  • Wie stelle ich den Reifendruck bei Kälte ein?Nach Herstellerangabe im kalten Zustand. Kein Herunterlassen „für mehr Grip“ – moderne Reifen arbeiten im Sollbereich am zuverlässigsten.

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